Erika Mohs, Sprecherin der „Frauen nach Tschernobyl e.V.“, berichtet über die Geschichte und das Engagement des Vereins

Die Angst teilen
Als Anfang Mai1986 der Wind die radioaktive Wolke über Polen nach Deutschland wehte, verstummte ich. Das, was ich hörte, las und sah über „Tschernobyl“, machte mich sprachlos. Schließlich fuhr ich mich Mitte Mai mit Mann und drei Kindern zu einer Kundgebung in Borken. Dort traf ich Familien, die ebenso hilflos waren wie ich, dort fand ich meine Sprache wieder und dort fanden sich die „Frauen nach Tschernobyl“. Seit 25 Jahren arbeiten wir nun zusammen. Wir alle waren damals Mütter mit kleinen Kindern, deren „heile Welt“ im Mai 86 kaputt ging. Wir fühlten unser Leben brutal bedroht und wollten uns wehren. Erst einmal schickten wir voller Wut verstrahlte Petersilie nach Wiesbaden. Später organisierten wir dann Diskussionsforen, Demonstrationen, Mahnwachen, beteiligten uns an der Klage gegen Würgassen und lernten viel dazu über Energiepolitik .Wenn ich heute die hilflosen japanischen Mütter sehe, denke ich damals und an meine eigene Hilflosigkeit.

Das Leid teilen
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990 änderte sich alles. Hinter dem Eisernen Vorhang kamen auf einmal Menschen hervor: Eine weißrussische Germanistikprofessorin erzählte in Göttingen ergreifend von der „schmutzigen Zone.“ Wir beschlossen, Kinder aus Weißrussland einzuladen und gründeten einen Verein. Im April 1992 empfingen wir zum ersten Mal 30 Kinder auf der Jugendburg Sensenstein. O, diese Kinder, o, diese Bedürftigkeit! Von den Betreuern erfuhren wir nun aus erster Hand Genaueres über die Krankheiten der Kinder, die Verzweiflung der Umsiedler, das Siechtum und Sterben der „Liquidatoren“. Wir vergaßen unsere Sorgen und teilten dieses Leid so gut wir konnten. Auf meinen späteren Reisen nach Weißrussland wurde ich mit noch viel mehr Leid konfrontiert, Leid, das der Nazi-Terror über Weißrussland gebracht hat. Ich sah die Gedenkstätte Chatyn, das Vernichtungslager Trostenez und das Minsker Ghetto. Aber am schlimmsten war die Kinderkrebsstation in Minsk. 24 Reisen nach Weißrussland haben mich verändert. Wie käme ich wohl aus Fukushima und Hiroschima zurück?

Die Freude teilen
Um die Kinder vier Wochen lang einzuladen, brauchten wir viel Geld. Wie kommt man an 40.000 DM? Wir „verdienten“ das Geld unter anderem durch Benefizkonzerte, Lesungen, Vorträge in Gemeinden, Bazare und Opernvorstellungen. Wir bemerkten voller Freude, wie bereitwillig uns die Menschen helfen wollten. Da war kein Musiker, Schauspieler, Chor, der gezögert hätte, ohne Honorar für uns aufzutreten. Da war kein Zahnarzt, der die Kinder nicht kostenlos behandelt hätte. Da wurden Klaviere gratis transportiert, neue Schuhe gespendet und ein Essen herbeigezaubert. Das Publikum des Staatstheaters bezahlte ohne Murren einen Aufschlag von 5 Euro pro Karte. Die Spender merkten, dass sie eine humanitäre und zugleich politische Arbeit unterstützten. Das freute sie und uns.
Ab 2002 finanzierten wir die Erholung der Kinder im weißrussischen Kinderheim „Nadeshda“. Dieses wunderbare Kinderzentrum wurde in deutsch-weißrussischer Zusammenarbeit aufgebaut .Aber auch japanische Gruppen beteiligten sich mit Spenden und Arbeitseinsätzen - ebenso wie die christliche Handwerkerschaft und das Männerwerk in Kassel. 2002 gründeten wir zusammen mit dem Verein „Franka“ das Frauenberatungsbüro „Perspektiwa“ in Gomel: Aus humanitärer Hilfe ist nun Partnerschaft geworden..

Die Hoffnung teilen
Im August 2006 bezogen wir das Umwelt-Haus in der Wilhelmstraße, das wir gemeinsam mit anderen Umweltverbänden gründeten. Unter diesem Dach teilen wir alle gemeinsam die Hoffnung auf eine Energiewende. Aber wir wissen auch: Es darf nicht wieder eine falsche Hoffnung sein, eine Hoffnung, die meint, wir wären Meister unseres Geschickes. Es muss eine Hoffnung sein auf das, was nicht in unserer Macht steht: Hoffnung auf eine Gnadenfrist. Es braucht einen langen Atem. Wir hoffen, dass unser aller Atem einmal zu einem starken Wind wird, der die radioaktive Wolke vertreibt – überall, auch aus Fukushima. Für immer.

Roswitha Heidrich und Sandra Wanisch für [ mittendrin ]

 

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