Warum ist der Mensch ein Mensch?

Das ungekürzte [ mittendrin ] Interview
mit dem Bildhauer Stephan Balkenhol

Wer einen Blick ins Gästebuch von „Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth“ wirft, dem springen die überwältigend positiven Reaktionen auf die Kunstwerke in diesem Kirchenraum sofort ins Auge – Seite um Seite. Der 1957 in Fritzlar geborene und in Kassel zur Schule gegangene Bildhauer rührt mit seinen Holzarbeiten die Besucher/innen in ihrer eigenen Tiefe an. „Wir stehen ratlos vor den Figuren in ihrer plastischen Dringlichkeit und Ausdruckslosigkeit. Von wo kommst du? fragen wir. Wie kommst du dahin? Wo bist du Adam? Wohin blickst du?“ fragte Pater Prof. Dr. Elmar Salmann OSB in seiner Eröffnungsansprache auf der Vernissage am 3. Juni 2012.

[ mittendrin ] hat noch mehr Fragen an Stephan Balkenhol:

[ mittendrin ] Über die ‚Schutzmatelmadonna von Hans Holbein dem Jüngeren (1497–1543) sagen Sie: "Das ist das Schönste, das ich in diesem Jahr gesehen habe." Was an diesem Bild ist für Sie so schön?

Stephan Balkenhol: An diesem Bild hat mich vieles fasziniert. Die Komposition, der Ausdruck der dargestellten biblischen Personen und der Stifter, die Präzision und die Vielschichtigkeit. Es ist für mich ein Kunstwerk, das eben nicht nur religiös funktioniert, indem es ein biblisches Thema illustriert, sondern es gibt auch Aufschluss über die Zeit, in der es entstanden ist, über die Beziehungen der Menschen untereinander und zur Religion. Darüber hinaus ist es formal einfach genial und immer noch geheimnisvoll. Allein der blaue Mantel ist ein Gedicht. Aber auch die Gesichtszüge der Dorothea Kannengießer sind so ausdrucksstark und überzeitlich, dass sie die Menschen zu jeder Zeit in ihren Bann schlagen.

[ mittendrin ] Warum sind Sie Bildhauer geworden?

Balkenhol: Keine Ahnung. Ich fing schon früh an, mich mit Kunst zu beschäftigen, mich für Kunst zu interessieren. Mit 14 habe ich erste Versuche gemacht. Die Bildhauerei liegt mir wohl, weil es ein sinnliches, direktes Medium ist, das in den realen Raum eingreift. Es entspricht meinem Temperament, auch körperlich zu arbeiten und den Widerstand zu suchen. Nebenher entstanden natürlich auch immer Zeichnungen. Künstler versuchen sich selbst und die Wirklichkeit durch ihre Kunst zu begreifen und zu erfassen - natürlich auch mit Kunst über Kunst zu reflektieren. Warum das so ist? Warum ist der Mensch ein Mensch?

[ mittendrin ] Woher kommt Ihre Vorliebe für das Material "Holz"? Was war Ihr erstes 'Holz', das Sie künstlerisch bearbeiteten?

Balkenhol: Holz ist einfach zu verarbeiten, zu bewegen und relativ leicht verfügbar. Außerdem ist es nicht so wichtig und kompliziert wie andere Materialien, zum Beispiel Stein oder Bronze. Es gibt mir genau die richtige Geschwindigkeit der Bearbeitung vor. In meinen Anfängen bearbeitete ich Linde oder Buche - Straßenbäume, die gefällt worden waren und die ich kostenlos mitnehmen konnte.

[ mittendrin ] Haben Sie die Figur, die Sie schaffen wollen, schon fertig vor Augen, oder entsteht diese endgültige Form erst während des Schaffensprozesses?

Balkenhol: Natürlich habe ich eine Vorstellung von dem, was ich machen will. Trotzdem ist es beim Arbeiten ein ständiger Dialog mit dem Werkstück. Ich muss die Form herausschälen, nähere mich an, überlege, lerne dabei.

[ mittendrin ] Auf den ersten Blick ähneln sich viele Ihrer Skulpturen. So ist der Mann mit schwarzer Hose und weißem Hemd ein "typischer Balkenhol". Oder Sie variieren eine Konstellation wie "der Mann und der Tod" oder die Figur auf einer goldenen Kugel in vielfacher Weise. Welcher schöpferischer Gedanke steckt hinter diesen Ähnlichkeiten?

Balkenhol: Die Ähnlichkeiten besonders bei den Männern liegen wohl daran, dass ich ohne Modell arbeite, und deshalb immer ein Typus entsteht, den ich in meinem visuellen Gedächtnis gespeichert habe. Variationen entstehen, wenn ich ein Genre erweitern oder um eine neue Facette bereichern will.

[ mittendrin ] Je aufmerksamer man ihre Figuren betrachtet, desto geheimnisvoller werden sie. Pater Salmann sprach in seiner Eröffnungsrede vom "Nicht Identifizerbaren der Figuren". Was bedeutet es Ihnen, dass jemand oder etwas Geheimnisse birgt?

Balkenhol: Das ist ein schwieriges Thema, denn der Witz bei Geheimnissen ist ja, dass sie geheim sind. Sie sind sogar so geheim, dass ich sie selbst nicht enträtseln könnte. Ich weiß nur, dass sie notwendig sind, um den Betrachter zu motivieren und zu bewegen, sich auf die Suche nach ihrer Enträtselung zu begeben.

[ mittendrin ] Was leitet Sie bei Ihrer künstlerischen Arbeit?

Balkenhol: Genauso schwierig. Es ist eine Mischung aus Lust, etwas Wirklichkeit werden zu lassen, was es noch nicht gibt - quasi ein Stück meiner Selbst der existierenden Realität hinzuzufügen (Künstler arbeiten, weil ihnen etwas mangelt...). Und diese Lust mischt sich mit dem Kampf und dem Ringen um Formgebung. Es ist eine Art existentieller und künstlerischer Lernprozess durch die Arbeit am Material im Raum.

[ mittendrin ] Außer beim "Augenkreuz" kann man bei keinem Ihrer Figuren den Blick festmachen. Man erkennt nicht genau, wohin sie blicken und ob sie einen ansehen. Was ist das für ein Blick, den Sie Ihren Figuren geben?

Balkenhol: Es ist ein Blick, der in die Ferne – wenn man so will, in die Leere geht – und gleichzeitig nach innen. Es lässt sich nicht so genau festmachen, wo sie hinschauen. Die Figuren schauen niemanden an, ziehen aber den Blick der Betrachter mit in sich hinein. Vielleicht ist es ein Mittel, eine Identifikation des Betrachters mit der Figur zu erreichen. Jedenfalls ist mir die Ambivalenz innen/außen wichtig.

[ mittendrin ] Von großer Spannung ist das Nebeneinander von (einfacher) "Frau mit blondem Haar" und Madonna sowie (einfachem) "Mann mit dunkelblauem Hemd" und Schmerzensmann. Wo liegt für Sie die Anziehungskraft ausgerechnet dieser beiden christlichen Bildmotive? Und was hat Sie bewogen, Allerweltsfiguren an eine Kirchenwand zu hängen?

Balkenhol: Maria, als Mutter Jesu, ist die Heilige, die dem Gottessohn am nächsten steht. Der Schmerzensmann (Jesus) als Gottessohn hat sich dem irdischen Schicksal der Menschen unterworfen, wird geboren, stirbt - die Auferstehung ist ein Wunder. Beides sind Menschen wie wir, sie denken wie wir, sie sterben wie wir. Ich habe sie als Motiv gewählt quasi stellvertretend für die christliche Lehre.
Die profanen Figuren “Frau mit blondem Haar“ und “Mann mit dunkelblauem Hemd“ können zeitgenössische Menschen sein oder aber Gefährten Christi. Es entsteht eine Identifikationsebene, eine Überzeitlichkeit, die gleichzeitig auch die christliche Lehre nicht nur als Überlieferung erscheinen lässt, sondern aktualisiert, in unsere Zeit holt. Es gibt keine Distanz, keine Hierarchie mehr zwischen Heiligem und Profanem, jedenfalls nicht äußerlich durch Größe (Bedeutungsmaßstab) oder Aura. Die Besonderheit liegt in den Taten und in ihrer Stellvertreterfunktion - etwas zu tun für andere oder anstelle von anderen Menschen, das eine Symbolfunktion hat für menschliches Handeln überhaupt.

[ mittendrin ] Der Kirchenraum ist kein Ausstellungsraum für Kunst. Für Sie war es eine besondere Herausforderung, diesen Raum unter der Bedingung zu gestalten, dass er seine Funktion als „Gotteshaus“ bewahrt. Haben Sie - jetzt zum Ende der 'Ausstellungszeit' hin - eine Vorstellung davon bekommen, welche Auswirkungen der Kirchenraum auf Ihre Kunstwerke hat?

Balkenhol: Für mich ist es eine der wichtigsten Ausstellungen der letzten Jahre überhaupt: Es war eine größere Herausforderung, diesen religiös besetzten Raum zu gestalten und ihn auch in seiner Funktion zu belassen, als ein Museum zu bestücken. Das liegt wohl daran, dass ich mich bei der Arbeit einerseits zwar auf die Thematik eingelassen habe, andererseits aber trotzdem frei war, meine eigenen künstlerischen Lösungen und Fragestellungen zu finden. Das ist für mich wertvoller und erfahrungsreicher gewesen als die gestalterische Auseinandersetzung mit einem Museumsraum. In Sankt Elisabeth ist eine neue, gehaltvollere Dimension meiner Arbeit entstanden.

[ mittendrin ] Sie sind nicht Mitglied der Katholischen Kirche. Hat sich Ihr Blick auf die Katholische Kirche durch Ihre Arbeit in Sankt Elisabeth verändert?

Balkenhol: Ich bin den Organisatoren dankbar für die Einladung zu dieser Ausstellung und für die Freiheit, die sie mir gelassen haben. Bei und mit der Arbeit habe ich natürlich auch für mich die Frage nach dem Glauben und nach der Religion neu gestellt. Eine katholische Erziehung und Kindheit kann man nicht vergessen und so fühlte ich mich auch ‚zuhause’. Ich glaube, dass Kunst, Wissenschaft und Religion zu den größten Kulturleistungen der Menschheit gehören. In der religiösen Botschaft steckt viel, was wir auch in der Philosophie finden. Es sind existentielle Wahrheiten über die conditio humana und Versuche, dem menschlichen Leben einen ‚Sinn’ zu geben. Gleichzeitig befindet sich das freie ‚Ausgesetzt-Sein’ in der Welt als Künstler im Widerspruch zur Religion. Man kann aber auch sagen: „Wer frei ist, kann sich binden.“ Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich bin damit noch nicht am Ende meines Nachdenkens angelangt...

[ mittendrin ] Was bleibt für Sie vom Konflikt mit der documenta-Leitung um die Turmfigur übrig?

Balkenhol: Ein Thema, das ich abhaken möchte. Im Nachhinein betrachtet entlarvt es eigentlich die Schwäche des künstlerischen Konzepts der documenta-Leitung. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Für bedauerlich halte ich, das durch den Konflikt zwar meine Turmfigur sehr populär wurde, aber gleichzeitig die Werke im Innenraum kaum Beachtung in der Presse gefunden haben, obwohl sie mindestens genauso wichtig sind.

[ mittendrin ] Sie unterrichten angehende bildende Künstler/innen und bekommen damit einen Blick in die Zukunft. Was sind die Themen und Materialien des Nachwuchses, die Sie besonders neugierig machen?

Balkenhol: Ich finde es interessant zu beobachten, dass junge Kunststudenten doch sehr offen und interessiert sind - auch gerade was Kunstgeschichte angeht. Es wird wieder mehr geforscht und nicht so sehr blind und selbstverliebt einfach nur geschaffen. Das macht Hoffnung. Gleichzeitig ist die Lage schwierig: Alles ist möglich, es gibt keine existierende Zeitströmung, an der man sich reiben kann. Die Studenten müssen den Widerstand in sich selbst suchen und finden.

[ mittendrin ] Was ist Ihr Traum vom Glück?

Balkenhol: Mit Energie, Freude und Fantasie gesund arbeiten zu können, bis ich umfalle.

[ mittendrin ] "Genauer hinschauen" ist das Leitthema dieser [ mittendrin ]. Wo schauen Sie am liebsten genauer hin?

Balkenhol: Wenn mich etwas irritiert, stutzig macht. Es gibt ja den Ausspruch: „Man sieht nur das, was man weiß.“ Oder (von Goethe): „Was ist das Schwerste? Das, was Dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehen, was vor den Augen Dir liegt.“ In diesem Sinne, ist es, glaube ich, eine gute Taktik, den Betrachter mit etwas scheinbar Bekanntem zu locken, und ihn dann durch einen Bruch, eine neue Fremdartigkeit zu verunsichern und damit gleichzeitig seine Erkenntnisarbeit herauszufordern.

[ mittendrin ] Stellen Sie uns, die wir Ihre Kunst betrachten oder dieses Interview lesen, eine Frage!

Balkenhol: Hat Kunst die Fähigkeit, Ihre Sicht auf die Welt, auf sich selbst, auf Ihr Leben zu verändern?

 

 

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