Das ungekürzte [ mittendrin ] Interview mit Oberbürgermeister Bertram Hilgen

„Eine Stadt kann nur dann bewohnbar sein, wenn sie erträumt werden kann." schreibt der bedeutende Kulturwissenschaftler Ivan Illich, der einige Zeit auch in Kassel lehrte. Für ihn braucht es dazu – kurzgefasst – ausreichend natürliches Wasser innerhalb des Stadtgebiets. Doch braucht es nicht auch ein besonderes Maß an Gastfreundschaft, damit eine Stadt bewohnbar ist? Wer will schon von einer Stadt träumen, die nicht gastfreundlich ist?

Alle Facetten der Stadt
[ mittendrin ] hat Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen gefragt, wie er Kassel in Sachen Gastfreundschaft sieht und welchen Traum er von Kassel hat. Der Jurist Hilgen spricht allerdings lieber von „Zielen“. „Oberbürgermeister“ heißt in Hessen der Bürgermeister einer Gemeinde über 50.000 Einwohner/innen. Er ist Leiter der Verwaltung und repräsentiert die Stadt nach außen. Wenn man so will, dann kommen in der Person des direkt gewählten Bürgermeisters stellvertretend alle Facetten einer Stadt zusammen.

[ mittendrin ] Was war Ihr erster Eindruck von Kassel?

Bertram Hilgen: Meine erste Erinnerung an Kassel ist von 1973, als ich eine damalige Freundin besuchte, die hier studierte. Für mich, der vom Land kam, war es eine große Stadt. Aber vor allem haben mich die Baulücken beeindruckt, die der Krieg hinterlassen hat – wie hohle Zähne.

[ mittendrin ] Was hat Sie denn nach Kassel geführt?

Hilgen: Ich komme aus Tann in der Rhön, habe im nahen Fulda meine Ausbildung als Rechtsrefrendar gemacht und mir dann als Wahlpflichtstation den Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel ausgesucht. Unvergessen die Begrüßung am ersten Tag durch meinen Ausbilder Dr. Manfred Voucko: Die Herzlichkeit und persönliche Begleitung hat mir das Ankommen sehr leicht gemacht und mich mit großer Freude lernen lassen. 1980 wurde ich dann persönlicher Referent von Oberbürgermeister Hans Eichel und lernte Kassel als städtischer Mitarbeiter zügig und umfassend kennen. Ich habe mich wahrscheinlich auch deshalb recht schnell heimisch gefühlt.

[ mittendrin ] Worauf legen Sie in Ihrer persönlichen Gastfreundschaft besonderen Wert?

Hilgen: Das Wichtigste ist mir, dass sich die Gäste bei uns angenommen und aufgehoben wissen. Ich mag es nicht, wenn sie sich durch übermäßige Versorgung eingeengt fühlen. Ein freier, entspannter, offener Umgang miteinander ist für mich ein gutes Zeichen dafür, dass sich die Gäste bei uns wohlfühlen.

[ mittendrin ] Welche Bedeutung hat Gastfreundschaft für Ihre Arbeit?

Hilgen: Eine sehr große. Es vergeht eigentlich kaum ein Tag, an dem ich nicht mit Gästen zu tun habe. Viele Gäste begrüße ich zum Beispiel im Rahmen unserer Städtepartnerschaften. Wir versuchen, die große Herzlichkeit und Großzügigkeit, die uns bei unseren Besuchen begegnet, zurückzugeben, wenn die Partner nach Kassel kommen. Aber die erlebte Gastfreundschaft ist manchmal so groß und beeindruckend – das können wir gar nicht zurückgeben.

[ mittendrin ] Welches Erlebnis an Gastfreundschaft hat sie besonders bewegt?

Hilgen: Ein absolut besonderer Moment ergab sich im norditalienischen Pescantina. Dort trafen wir Verwandte von Zwangsarbeitern, die wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkriegs in Wilhelmshöhe ermordet wurden. In diese Begegnung ging ich als Oberbürgermeister derjenigen Stadt, in der das Verbrechen geschah, mit sehr zwiespältigen Gefühlen, eigentlich damit rechnend, dass die Menschen dort mit uns nichts zu tun haben wollen. Aber genau das Gegenteil geschah, für mich ein unvergessliches Erlebnis und großes Geschenk.

[ mittendrin ] Wo müsste sich die Stadt Kassel in Sachen Gastfreundschaft noch verbessern?

Hilgen: Einen solchen Bedarf sehe ich aktuell nicht. Sicher, die Nordhessen tragen ihr Herz nicht auf der Zunge und gelten auch nicht als überschwänglich. Aber das ist eine Frage der Mentalität und keine Frage der Gastfreundschaft. Für mich ist Kassel ganz klar eine gastfreundliche Stadt und das hat wesentlich mit der grundsätzlich gastfreundlichen Haltung der allermeisten Bürgerinnen und Bürger zu tun.

Kassels Oberbürgermeister seit 2005: Bertram Hilgen
(Foto: Stadt Kassel)

Eine Frage an Sie!

Ist Kassel eine gastfreundliche Stadt?
Was ist Ihr Traum von einem gastfreundlichen Kassel? Wir freuen uns auf Ihre Beteiligung am Forum auf unseren Internetseiten oder Ihre Antworten an mittendrin@katholische-kirche-kassel.de!


Hilfsfragen;-):
Wenn ja, wo und wie zeigt sich Kassels Gastfreundschaft? An welchen Orten, Plätzen, Stellen innerhalb der Stadt fühlen Sie sich besonders willkommen/zu Hause? Wenn Kassel aus Ihrer Sicht keine gastfreundliche Stadt ist, wo und wie zeigt sich Kassels abweisende Seite? Wo in der Stadt fühlen Sie sich besonders fremd? Was fehlt Kassel, um (besonders) gastfreundlich zu werden?

Mehr als 250 Menschen werden jeden Tag neue Bürger/innen der Stadt Kassel. Sie erhalten eine „Herzlich Willkommen-Mappe“, die ihnen die Eingewöhnung und Orientierung erleichtern soll. Dazu gehört charmanterweise auch ein 15 Euro-Eintritts- und Verzehrgutschein für das Internationale Frühlingsfest im Schlachthof.

Befragung der Neubürger/innen
Im März endete eine Befragung der Neubürger/innen. 6.000 zufällig Ausgewählte, die seit mindestens 1 Jahr in Kassel leben, wurden nach ihren Erfahrungen und Einschätzungen gefragt. Zum Redaktionsschluss lag noch keine Auswertung vor.
[ mittendrin ] wird an dieser Stelle weiter darüber berichten

[ mittendrin ] Gut 13 Prozent der Einwohner Kassels besitzen eine ausländische Staatsbürgerschaft. Wie sehen Sie Kassel beim Thema „Integration“?

Hilgen: Kassel hat eine Jahrhunderte lange gute Tradition, zugewanderten Menschen eine neue Heimat zu geben. Aktuell leben Menschen aus rund 150 unterschiedlichen Nationen in unserer Stadt weitgehend konfliktfrei und friedlich zusammen. Alle Neubürger bringen dabei ihre ethnischen, religiösen und kulturellen Wurzeln mit in das stadtgesellschaftliche Leben ein. Das ist ein Gewinn für uns alle. Daran, dass der soziale Frieden auch in einer zukünftig noch bunter werdenden Bürgerschaft bewahrt bleibt und alle die notwendigen Chancen der Teilhabe wahrnehmen können, arbeiten wir mit vielen anderen Akteuren in der Stadt zusammen. Um nur 1 Beispiel zu nennen: Vor über 30 Jahren wurde in Kassel erstmals ein Ausländerbeirat gewählt. Die Nordhessen-Metropole gehörte damit zu den bundesweit ersten Kommunen überhaupt, die ein solches Gremium ins Leben rief. Das „Kasseler Modell“ stand Pate für die Gründung vieler Ausländerbeiräte in Deutschland und im benachbarten Ausland. Aus der damaligen Hoffnung, eine wirkungsvolle Interessenvertretung der nicht-wahlberechtigten Bevölkerung und damit zu einem wichtigen Faktor für Integration und ein friedvolles Zusammenleben in Kassel zu werden, ist heute Gewissheit geworden. Ich denke, es ist kein Zufall, dass gerade Kassel vor einigen Jahren als „Modellregion Integration“ ausgewählt wurde.

[ mittendrin ] Ihr Traum von Kassel?

Hilgen: Ich spreche lieber von Zielen: Ich möchte Kassel in das Mittelfeld der wohlhabenden Städte führen.

[ mittendrin ] Was meinen Sie mit „wohlhabend“?

Hilgen: Geringe Arbeitslosigkeit. Guter Haushalt. Dass wir in der Lage sind, denjenigen Menschen, die in soziale Not geraten, kompetent zu helfen. Und dass wir uns das, was unsere Stadt an Bildung, Kunst, Kultur und Freizeitangeboten auszeichnet, auch leisten können.

[ mittendrin ] Wo führen Sie Gäste hin, wenn Sie Ihnen einen besonderen Eindruck von Kassel vermitteln wollen?

Hilgen: Neben den ‚grünen‘ Highlights wie Bergpark Wilhelmshöhe und Aue ist für mich das Museum für Sepulkralkultur am Weinberg ein ganz besonderer Kasseler Standort. Erst beschäftigt man sich mit dem Thema Tod und dann steht man auf der Terrasse und hat einen traumhaften Blick über die Südstadt. Da ist Kassel schon einzigartig.

Das Gespräch führte Christoph Baumanns.

Oberbürgermeister Bertram Hilgen als Gastgeber bei der Einbürgerungsfeier 2012
(Foto: Stadt Kassel)
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